In der heutigen Gesellschaft sind Nähe und Distanz Themen, die uns alle betreffen – sei es im privaten oder beruflichen Umfeld. Besonders für Menschen mit einer Behinderung ist es oft schwierig, die eigenen Grenzen zu erkennen und zu kommunizieren. Umso wichtiger sind Kurse, die sich genau mit diesen Fragen auseinandersetzen. Deshalb war ich besonders neugierig, als ich die Möglichkeit bekam, mit Karin Grütter, der Kursleiterin des VEBO-Kurses „Nähe und Distanz“, zu sprechen.
Der Kurs wird von der VEBO Lernwerkstatt angeboten, die sowohl für Menschen ohne IV-Rente als auch für Menschen mit einer Behinderung Kurse anbietet. Karin Grütter, die selbst eine geistige Behinderung hat und in der VEBO Grenchen im Packing arbeitet, wurde zur Kursleiterin ernannt und bringt damit eine besondere Perspektive in den Kurs ein.
Karin als Peer im Kurs
Karin ist keine gewöhnliche Kursleiterin, und das ist etwas, das den Kurs „Nähe und Distanz“ so besonders macht. Als Peer kann sie ihre eigenen Erfahrungen und Sichtweisen einbringen, was eine andere Dimension der Verständlichkeit für die Teilnehmenden schafft. „Ich glaube, jemand, der ähnliche Beeinträchtigungen hat wie die Kursteilnehmer, kann das besser vermitteln als eine externe Fachperson,“ sagte Karin mir im Interview. Ihre Teilnahme als Kursleiterin bietet den Teilnehmenden ein gewisses Mass an Identifikation – sie sehen, dass sie nicht allein mit ihren Herausforderungen sind.
Erfahrungen aus dem Kurs
Was den Kurs besonders wertvoll macht, sind die interaktiven Übungen. Eine der Übungen, die Karin als besonders aufschlussreich empfand, war der Vergleich von zwei verschiedenen Händedrucken. „Beim ersten Händedruck ist alles normal. Aber wenn ich beim zweiten Mal die Handfläche der anderen Person mit dem Finger streichle, dann fühlt sich das gleich viel unangenehmer an,“ erklärte sie mir, während sie die Übung demonstrierte. Diese einfache Übung veranschaulicht sehr eindrucksvoll, wie unterschiedlich Nähe wahrgenommen wird und dass Kommunikation über persönliche Grenzen wichtig ist.
Ein weiteres Highlight des Kurses war eine Übung, bei der die Teilnehmenden mit grünen und roten Karten signalisieren konnten, wann ihnen eine andere Person zu nah kommt. Karin erzählte mir, dass viele überrascht waren, wie nahe sie einander in bestimmten Situationen kommen – manchmal ohne es selbst zu merken. „Im Kollegenkreis oder beim Partner ist das okay, aber im Arbeitsbereich sollte man aufpassen,“ reflektierte sie.
Herausforderungen und Lernmomente
Natürlich ist es nicht immer einfach, über Nähe und Distanz zu sprechen – besonders für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. „Es gibt Teilnehmende, die ihre Grenzen klar kennen, aber bei den Schwächeren muss man immer wieder daran erinnern: Nicht immer anfassen, haltet Distanz,“ sagte Karin. Hier ist auch die Rolle der Kursleiterinnen und -leiter entscheidend: Sie müssen geduldig und verständnisvoll sein, um den Teilnehmenden dabei zu helfen, diese wichtigen Konzepte zu verinnerlichen.
Reflexion über Karins Rolle
Während des Interviews habe ich viel über Karins Rolle als Kursleiterin nachgedacht. Es ist nicht leicht, eine Person mit geistiger Behinderung in eine Leitungsposition zu setzen, doch Karin bringt als Peer eine wertvolle Perspektive ein. Sie wurde dabei von der VEBO Lernwerkstatt tatkräftig unterstützt, die den Kurs mit ihr gemeinsam vorbereitet und durchgeführt hat. Dies zeigt, dass das Prinzip der Peer-Unterstützung wertvoll ist, auch wenn es eine Herausforderung bleibt, den Kurs inhaltlich und strukturell zu leiten.
Ein Kurs, der Grenzen aufzeigt
Eine besonders wichtige Botschaft, die Karin in ihren Kursen vermittelt, ist, dass es in Ordnung ist, „Nein“ zu sagen und sich zu wehren, wenn einem jemand zu nahe kommt. „Egal wann und wo ihr seid, wenn euch jemand anfasst und es unangenehm ist, schreit laut nach Hilfe,“ ermutigt sie ihre Teilnehmenden. Es ist diese klare Ansage, die den Kurs zu einem Erfolg macht: Die Teilnehmenden lernen, ihre Grenzen zu erkennen und diese zu schützen, sei es im privaten oder beruflichen Umfeld.
Sexualität – ein tabuisiertes Thema?
Interessanterweise wurde im Kurs das Thema Sexualität kaum angesprochen, obwohl es in direktem Zusammenhang mit Nähe und Distanz steht. Auf meine Nachfrage hin erklärte mir Karin, dass die VEBO dieses Thema bewusst ausgelassen habe. „Ich hätte Sexualität gerne mit aufgenommen, aber dem Arbeitgeber war das wahrscheinlich zu heikel,“ sagte sie. Es ist schade, dass dieses wichtige Thema nicht in den Kurs integriert wurde, denn viele Menschen – mit und ohne Beeinträchtigung – haben oft Schwierigkeiten, über ihre sexuellen Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen.
Ein wertvolles Angebot
Alles in allem ist der Kurs „Nähe und Distanz“ ein wichtiger Beitrag zur Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigung. Auch wenn Karin Grütter vielleicht nicht die klassische Kursleiterin ist, so bringt sie doch eine authentische und ehrliche Perspektive ein. Ihre Botschaft ist klar: Jeder Mensch hat das Recht, seine persönlichen Grenzen zu schützen und selbst zu bestimmen, wie viel Nähe er oder sie zulassen möchte.
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass solche Kurse weitergeführt und ausgebaut werden. Die Themen Nähe, Distanz und auch Sexualität sind für uns alle relevant – egal, welche Einschränkungen wir haben. Denn nur wenn wir unsere eigenen Grenzen kennen, können wir respektvoll miteinander umgehen.